Zum Hauptinhalt springen

Infas-360-Geschäftsführer Michael Herter im Interview

„An einer Adresse leben 1,2 Hunde“

Infas-360-Geschäftsführer Michael Herter über statistische Zwillinge, kleine Zielgruppen und die korrekt ermittelte Anzahl von Hunden.

Inside bei Infas: Julia Kroth, Michael Herter, Franziska Kern, Outsider (li.)

INSIDE: Herr Herter, Ihr, wir nennen es mal Mutterschiff, die Infas, ist ja vielen ein Begriff: Zehn Jahre jünger als die Bundesrepublik und als unabhängiges Institut für Sozialwissenschaften mit heute fast 140 Wissenschaftlern ein Schwergewicht. Aber Infas 360 kannten wir bis vor Kurzem noch nicht. Worauf ist Ihr Institut spezialisiert?
Michael Herter: Infas 360 ist auf Data Science spezialisiert. Wir sammeln und analysieren alle öffentlich wie privat verfügbaren Daten. Das aus den Daten abgeleitete Wissen dient der Wirtschaft und Wissenschaft als Entscheidungsgrundlage für ihr Handeln.

Was machen Sie anders als Ihre Kollegen auf dem weiten Feld der Marktforschung?
Wir kombinieren unsere Vielfalt an Daten mit Befragungsdaten. Das heißt: Wenn es zu einem bestimmten Thema keine amtlichen oder privat verfügbaren Daten gibt, dann befragen wir halt über 10.000 Personen online. Das ist unser USP. Unsere Befragten geben bei den Online-Umfragen freiwillig ihre Adresse an. Die Datenbank der Infas 360 beinhaltet wiederum rund 700 Merkmale zu allen circa 23 Mio adressierbaren Gebäuden sowie unzählige weitere Informationen auf höheren Ebenen. Diese Daten werden dann anonymisiert um die Befragungsdaten angereichert. Und dann können statistische Zwillinge gesucht werden. Also, wenn der oder die Befragte zum Beispiel angegeben hat, 1.000 Euro pro Jahr für Möbel auszugeben und an der Adresse herrscht eine bestimm- te Kombination unserer mikrogeographischen Merkmale vor, ist die Kaufkraft mit hoher Wahrscheinlichkeit an Adressen mit einer ähnlichen Merkmalskombination gleich hoch. Die Schätzwerte werden für alle circa 19 Mio Wohnadressen berechnet und auf be- liebige Ebenen aggregiert. So können unterschiedlichste regionale Potenzialkennziffern und Marktanteile berechnet werden.

Mit welchen Methoden arbeitet Infas 360?
Mit quasi allen Analysemethoden, die die Statistik zu bieten hat. Um mal ein paar zu nennen: Small-Area-Methoden, Clusteranalysen, Diskriminanzanalysen, logistische Regressionsmodelle. Neben den regionalen Potenzialkennziffern berechnet Infas 360 auch Segmentierungen auf Basis von Befragungs- und Mikrodaten mittels Clusteranalyse und überträgt diese auf alle Wohnadressen in Deutschland mittels Diskriminanzanalyse. Wir können verschiedene Wohnkonzepte wie die Frage, wie ein Haushalt wohnt, anspruchsvoll, bescheiden, häuslich, konventionell, ohne Probleme in die Fläche übertragen.

Was ist an diesem Ansatz anders als in der klassischen Marktforschung?
Bei uns sind die Fallzahlen höher als bei den meisten anderen Marktforschungsstudien und wir kommen auf rund 1.000 Befragte je Postleitzone, sodass die Regionalisierung der Befragungsergebnisse möglich ist. Damit unterscheiden wir uns definitiv von herkömmlicher Marktforschung: Wir schätzen, dass an einer Adresse 1,2 Hunde leben. Das kann natürlich nicht stimmen, aber auf den Ortsteil hochgerechnet stimmt es – das hat ein Abgleich mit amtlichen Daten aus der Hundesteuer gezeigt.

Ist das nicht auch sehr kostenintensiv, so detaillierte Daten zu sammeln?
Online-Befragungen sind die kostengünstigste Variante, Marktforschungsdaten zu sammeln. Aber klar, die hohen Fallzahlen machen die Datensammlung etwas teurer. Aber eben auch besser. Und unsere Umfragen werden als Multi-Client-Studien aufgesetzt. Man kann sich also auch mit wenigen, individuellen Fragen beteiligen.

Was sagen Ihre Daten: Hat sich die Einstellung der Deutschen signifikant geändert, wenn es um Themen wie Nachhaltigkeit und New Normal geht?
Geändert hat sich in den letzten Jahren, besonders in der Corona-Pandemie, natürlich einiges, das erkennen wir auch in den Daten wieder. Themen wie Elektromobilität sind präsenter als noch vor einigen Jahren. Es lässt sich außerdem erkennen, dass Regionalität stärker in den Fokus gerückt ist. Auch von Kundenseite merken wir, dass sich die Anfragen im Themengebiet Nachhaltigkeit häufen. Wir haben beispielsweise eine Sanierungswahrscheinlichkeit auf Ad-ressebene geschätzt. Gebäudesanierungen sind für die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele sehr wichtig und dementsprechend sind die Sanierungsmerkmale auf ein hohes Interesse gestoßen.

Haben sich auch die Verhaltensgewohnheiten schon merklich geändert? Können Sie Beispiele geben?
In unserer wiederkehrenden Umfrage haben wir sowohl 2019 vor der Pandemie als auch Mitte 2020 gefragt, wie oft die Befragten bestimmte Handlungen durchführen. Dabei kam zum Beispiel heraus, dass 2020 etwa 74 Prozent „häufig“ oder „immer“ Obst und Gemüse aus der Region kaufen. Im Jahr 2019 waren es etwa 4 Prozentpunkte weniger. Das könnte beispielsweise darauf zurückzuführen sein, dass sich während Corona wieder vermehrt auf lokale Produkte fokussiert wurde. Bei Fragen, die sich auf die Investitionsbereitschaft beziehen, haben Befragte aber öfter Bedenken gezeigt. So sind 2020 beispielsweise weniger Leute bereit, höhere Steuern zugunsten des Umweltschutzes zu zahlen oder in die Wärmedämmung des Hauses zu investieren als noch 2019. Auch das ist sicherlich auf die zu diesem Zeitpunkt unsichere und teilweise finanziell angespannte Lage während der Pandemie zurückzuführen.

Thema Homeoffice: Sie haben ja durch ihre Methoden erstmals die Nutzung von Homeoffice auf die Ebene von Städten und Kreisen herunterbrechen können. Das sind Ergebnisse, die nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für Verwaltung und Politik interessant sind. Wer nutzt denn aus diesem Sektor Ihre Erhebungen?
Von Interesse sind diese Daten zurzeit vor allem für Forschungsinstitute, die die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie bewerten und damit natürlich auch für die Politik, die von diesen Instituten beraten wird. In Zukunft wird das Thema aber auch abseits der Pandemie relevant bleiben. Die Digitalisierung wird weiter vo-rangetrieben und auch die Ansprüche an das Wohnen haben sich durch Homeoffi-ce geändert. Die Daten werden also für die Politik, aber auch für den Immobilienmarkt, Büro-Ausstatter und viele weitere Wirtschaftsbereiche von Interesse sein.

Mit Ihren Methoden wie der Online-Repräsentativbefragung können Sie sehr kleine Zielgruppen erfassen. Auf Ihrem Unternehmens-Blog haben wir nicht nur gelernt, wie viele Veganer es bei den über 18-Jährigen gibt – 2,7 Prozent –, sondern auch, wie viele Lacto-Vegetarier, nämlich 1,4 Prozent. Wer benötigt so spezielle Daten überhaupt – und wofür? Können Sie uns verraten, ob auch die Möbelindustrie schon Interesse gezeigt hat?
Die Frage nach den unterschiedlichen Ernährungsgewohnheiten ist zum Beispiel besonders für Hersteller interessant, die sich mit ihren Produkten an ganz spezielle Zielgruppen wenden möchten. Aber wenn man die Kategorien zu den üblichen Ernährungsformen zusammenfasst, sind die Daten auch für Einzelhändler hochinteressant, weil diese ihr regionales Sortiment dann an das Einzugsgebiet ihrer Filiale anpassen können oder zielgerichteter werben können. Für die Möbelindustrie sehen wir hier ein großes Potenzial, weil auch sehr spezifische Fragestellungen abgefragt und regionalisiert werden können, auch wenn wir ein solches Projekt bisher noch nicht durchgeführt haben.

Könnten Sie auch bei einer so kleinen Zielgruppe wie den 150 von 10.000 Personen, die Lacto-Vegetarier sind, eine Regionalisierung vornehmen? Oder müssten für dieses Verfahren größere Zielgruppen genommen werden?
Um eine genaue Schätzung zu erhalten, sollte die Zielgruppe schon etwas größer sein. Um den Lacto-Vegetarier zu regionalisieren, sind die 150 Befragten also zu wenig. Aber der Vorteil an unserer enorm großen Stichprobe mit 10.000 Befragten ist tatsächlich, dass wir auch über kleinere, spezifischere Zielgruppen Aussagen treffen können und sie, ab etwa 1.000 Befragten, auch regionalisieren können. Für die Regionalisierung müssen noch weitere Kriterien erfüllt sein, die aber auch durch die hohe Teilnehmerzahl in der Regel kein Hindernis darstellen.

Lassen sich Menschen heute eigentlich genauso überzeugen, an Umfragen teilzunehmen, wie früher?
Über Online-Umfragen erreichen wir, mit entsprechenden Anreizen, seit Jahren relativ konstant und zuverlässig genug Teilnehmer. Natürlich gibt es Zeiten, etwa die Sommerferien, in denen weniger Personen vor dem Computer sitzen, um Umfragen im Internet zu beantworten. Da dauert es dann manchmal etwas länger, bis wir genug Teilnehmer gefunden haben. Es gibt außerdem Zielgruppen, die über Online-Umfragen schwieriger zu erreichen sind, ältere Personen zum Beispiel. Da wir das aber wissen, können wir dem durch Quotierungs- und Gewichtungsverfahren entgegenwirken, sodass wir trotzdem bevölkerungsrepräsentative Ergebnisse erhalten.

Jetzt haben wir Sie eine Stunde lang verhört. Von Journalisten lassen Sie sich also löchern. Aber: Nehmen Sie persönlich eigentlich auch an Marktforschungsumfragen teil?
Gerade in unserer Branche wissen wir natürlich, wie essenziell genügend Teilnehmer für solche Umfragen sind. Ich würde also durchaus teilnehmen, wenn es mein Terminkalender zulässt.

Franziska Kern

Julia Kroth

Michael Herter